Im Prospekt eines deutschen Touristikunternehmens für Bildungsbürger wurde bei der Beschreibung einer Reise durchs Heilige Land auch ein Besuch in "Nazareth, dem Geburtsort Jesu" angekündigt. Es hagelte Protestbriefe. Schließlich wisse jeder, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Ja, das weiß jeder.
SPIEGEL: Herr Drewermann, ist Jesus in Bethlehem geboren oder in Nazareth? Am Heiligabend ist in allen Kirchen die Rede von Bethlehem, viele Theologen halten Nazareth für den Geburtsort.
DREWERMANN: Daß Jesus nicht in Bethlehem geboren ist, ist ziemlich sicher. Nazareth wird seine Heimat gewesen sein; ob er dort geboren ist, steht dahin. Ich vermute, daß Jesus weder in dem einen noch in dem anderen Ort geboren ist.
SPIEGEL: Warum nicht in Bethlehem?
DREWERMANN: Dieser Ort wird nur an zwei Stellen des Neuen Testaments genannt. Die Evangelisten Lukas und Matthäus haben die Geburt nach Bethlehem verlegt, um eine Ankündigung des Propheten Micha aus dem Alten Testament auf Jesus zu beziehen: "Du, Bethlehem im Lande Juda! Du bist keineswegs die unbedeutendste Stadt in Judäa, denn aus dir soll der Mann kommen, der mein Volk Israel führen wird."
SPIEGEL: Und warum nehmen Sie an, Jesus sei auch nicht in Nazareth geboren?
DREWERMANN: Auch für Nazareth als Geburtsort gibt es theologische Gründe, die aller Wahrscheinlichkeit nach historisch nicht belegbar sind.
SPIEGEL: Nach katholischer Lehre hat Jesus alle sieben Sakramente der Kirche eingesetzt: Taufe, Eucharistie oder Abendmahl, Firmung, Priesterweihe, Krankensalbung, Beichte und Ehe.
DREWERMANN: Jesus hat mit Sicherheit kein einziges Sakrament eingesetzt, wie heute ziemlich alle Theologen wissen.
SPIEGEL: Wirklich ziemlich alle?
DREWERMANN: Es mag noch irgendwo Fundamentaltheologen geben, die Fundamente dort suchen, wo keine zu finden sind. Aber das sind nur wenige.
SPIEGEL: Warum wissen es nur die Theologen, nicht auch die Gläubigen?
DREWERMANN: Da liegt das Problem. Unsere Kirchengläubigen wurden lange Zeit vom Wissen der Theologen ausgeschlossen, größtenteils sind sie es noch immer. Die Theologen ihrerseits haben nicht den Mut, über all diese Fragen offen zu sprechen.
SPIEGEL: Nun beruft sich Ihre Kirche darauf, daß Jesus laut Bibel aufgefordert habe, das Abendmahl zu seinem Gedächtnis zu halten, und zu den berühmtesten Stellen des Neuen Testaments gehört auch sein Taufbefehl: "Geht nun zu allen Völkern der Welt und macht die Menschen zu meinen Jüngern. Tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."
DREWERMANN: Was Jesus über Taufe und Abendmahl gesagt haben soll, ist ihm lange nach seinem Tode zugeschrieben worden. Taufen in aller Welt kann er schon deshalb nicht befohlen haben, weil er an das nahe Weltende glaubte und sein Wirken auf Israel beschränkte.
SPIEGEL: Das Abendmahl, die Eucharistie . . .
DREWERMANN: . . . kann man auch nicht auf Jesus zurückführen. Er war Jude, und es ist völlig ausgeschlossen, daß der Jude Jesus beim letzten Abendmahl seinen Jüngern Brot gab und dabei die Worte sprach: "Das ist mein Leib, der für euch geopfert wird." Und daß er den Jüngern den Kelch mit den Worten gab: "Das ist mein Blut."
SPIEGEL: Diese Worte stehen fast gleichlautend in den ersten drei Evangelien und bei Paulus. Und so wird es katholischen Christen bis heute in jeder Messe mit den sogenannten Wandlungsworten verkündet. Warum ist es ausgeschlossen, daß Jesus dies gesagt hat?
DREWERMANN: Weil diese Vorstellung, das Fleisch eines Menschen zu essen und das Blut eines Menschen zu trinken, für einen Juden, und nicht nur für den, etwas Gräßliches ist. Jesus wäre nie auf die Idee gekommen, das Fest-Essen des jüdischen Passahfestes, das die Juden an den Auszug ihrer Vorfahren aus Ägypten erinnert, umzuwandeln in eine Mahlzeit, bei der die Gläubigen sakramental teilhaben am Leben eines Gottes, der sich im Tod opfert.
SPIEGEL: Nun ist offizielle katholischkirchliche Lesart, Jesus habe sich aus der jüdischen Religion gelöst und sei einen großen Schritt weitergegangen.
DREWERMANN: Sicher nicht in diese Richtung. Was Jesus wollte, war - nach dem Wenigen, was wir über ihn historisch wissen - eine Belebung, eine Erneuerung der Religion seines Volkes, mit prophetischem Anspruch und ohne Aufschub. Seine revolutionäre Tat war es, daß er Zöllner und öffentliche Sünder zur Gemeinschaft mit Gott einlud. Insofern ist es aberwitzig, daß die katholische Kirche das Sakrament der Eucharistie, also die Kommunion in der Messe, allen Nichtkatholiken und sogar vielen Katholiken verweigert, Geschiedenen zum Beispiel. Jesus hat niemanden aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen, die katholische Kirche schließt jeden aus, der nicht das glaubt und tut, was sie vorschreibt.
Der in der biblischen Überlieferung in durchaus schillernden Farben geschilderte König David ist in den Augen späterer Generationen nicht nur der große Poet und Psalmendichter geworden, sondern an seiner Gestalt haben sich auch Konzepte entwickelt, die auf die Ankunft eines „neuen David“ und Gesalbten (hebr. Messias, griech. Christus) hoffen. In diesem Kontext ist Bethlehem in Mi 5,2 lesen Mi 5,1 theologisch und semantisch ausgebaut worden: „Und du, Bethlehem Efrata, das du klein unter den Tausendschaften von Juda bist, aus dir wird mir der hervorgehen, der Herrscher über Israel sein soll; und seine Ursprünge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her. Mi 5,1; Übersetzung: Elberfelder Bibel; die Übersetzung von Martin Buber lautet: „Du aber, Betlehem-Efrat, gering, um zu sein unter den Tausendschaften Jehudas, aus dir fährt mir einer hervor, in Jissrael Walter zu sein, dessen Ausfahrt ist von urher, von den Tagen der Frühzeit“). Die Qualifizierung von Bethlehem als „klein, gering“ (auch „jung, zart“) am Anfang der Aussage bildet den Kontrast zu der Aussage am Ende, dass Israels künftiger Herrscher „groß“ sein werde. Der Kontrast von klein vs. groß ist an Davids familiärer Herkunft (der Begriff „Tausendschaften“ ist hier nicht als ein militärischer Terminus Technicus, sondern im Sinne von „Sippe, Clan“ zu verstehen) inspiriert, das dem Motiv „Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär“ (Kessler, 223) entspricht. Mit diesem Gegensatz wird sowohl der Kontrast aufgegriffen, dass David als jüngster Sohn Isais später zum größten König in Israel wird als auch, dass aus Bethlehem, aus dem der König zu Beginn der Königsgeschichte Israels stammt, der künftige König hervorgehen werde (vgl. auch Jes 11,1 und Jer 30,21). Dieser neue König wird interessanterweise nicht explizit mit David identifiziert. Die in Mi 5,1 geschilderten Pole von Vergangenem und Zukünftigen betonen, dass der kommende Herrscher Israels bereits von „Vorzeit“ und „Urzeit“ her so konzipiert sei. In den Chiffren „Bethlehem“ und „Messias“ berühren sich somit der Anfang als Ursprung vor Urzeiten mit der zu erwartenden und erhofften Zukunft.